30Ausstellung
Kunst, die aus der Todesangst entstand
Montag, 30. Juni 2008 04:00

Von Knut Teske

Ihre Schicksale produzierten Schlagzeilen, die um die Welt gingen. Die eine überlebte den Holocaust, die andere die Entführung der „Landshut“. Jetzt stellen die Künstlerinnen Rachel Gera und Gabriele von Lutzau in Berlin aus.

Foto: M. LengemannKunst, die aus einem Schock entstand: Rachel Gera (l) und Gabriele von Lutzau mit einem ihrer Ausstellungsstücke

Es ist ein Treffen zweier Damen, deren Schicksale Weltschlagzeilen produziert haben. Beide waren Spielball finsterer Mächte. Beide, blond und wesensverwandt, wurden Künstlerinnen, die, wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten an völlig verschiedenen Orten der Welt, überlebten und aus dieser Kunst zu überleben ihre ganz eigene Kunst erschufen. Berlin bekommt diese Exponate jetzt zu sehen.

Die eine, Rachel Gera, ist nicht nur in Israel eine begehrte Designerin einzigartigen Schmucks. Die andere, Gabriele von Lutzau, schafft meterhohe Skulpturen aus Holz, die in Bronze gegossen werden. Die Künstlerinnen vereint, dass sie sich mit ihren Arbeiten gegen das Hässliche, Schmutzige, gegen Diktatur und Unterdrückung zur Wehr setzen. Beide wollten sich nie geschlagen geben, sich nicht von „Verbrechern und Idioten“ ihr Leben diktieren lassen. Sie begehrten und begehren erfolgreich mit ihrer Kunst auf – Gabriele von Lutzau kämpferisch, Rachel Gera mit Luxus, Schönheit und Ästhetik.

Der Beginn der Laufbahn war der Schock.

Die Deutsche Gabriele von Lutzau stellt ihre großen und doch filigranen Figuren, die immer etwas mit Luft, Leichtigkeit und Vogelflug zu tun haben, also immer auf Achse sind und alles im Auge behalten, von Frankfurt über New York bis Shanghai aus. Und nun also in Berlin, in der Commerzbank am Pariser Platz. Die Israelin Rachel Gera zählt die Queen zu ihren Kunden. Auch der inzwischen verstorbene US-Schauspieler und Sänger Danny Kaye sowie Sir Peter Ustinov kauften bei ihr.

Bei beiden hatte der Beginn ihrer Laufbahnen etwas mit dem Schock zu tun, den sie durchzumachen und zu verarbeiten hatten. Rachels Schock, wenn man so will, dauerte fünf Jahre, Gabrieles fünf Tage. Die eine begann mit der Kunst 1939 im kindlichen Alter, die andere 1977 mit 23 Jahren. Die eine wurde als Jüdin Opfer des Rassenwahns, die andere als Stewardess Opfer der Entführung der „Landshut“ nach Mogadischu. Sie überlebten, geprägt fürs Leben. Beider Geschichte spiegelt die Brutalität des 20. Jahrhunderts wider.

Rachel fielen die Stifte tatsächlich einst vor die Füße

Rachel begann im Alter von drei, vier Jahren mit dem Malen, als ihr aus einem uralten Schrank vergessene Buntstifte vor die Füße fielen, irgendwo tief in Europas Osten – weit weg von der Heimat, von Freunden und jeglicher Form von Sicherheit. 1936 scheinbar in der Sicherheit Tel Avivs geboren, geriet Rachel mit ihrer Mutter beim Besuch von Verwandten in Polen am 1. September in die Mühlen des Nationalsozialismus. Sie flohen, von den Nazis verfolgt und als Juden auch von den Polen nicht gemocht, monatelang durch das Land. Überall, wo die Mutter festgehalten wurde, in Arbeitslager gesperrt und ausgebeutet, war die dreijährige Tochter dabei, musste mithelfen. Auf der Flucht waren an die 300 000 Juden, die damals nur eines wussten: niemals in die Fänge der Nazis fallen. Immer in östliche Richtung fliehend, kamen sie so in die Ukraine nach Lemberg, dem heutigen Lwiw.

Dort fielen ihr aus einem wurmstichigen Schrank die Buntstifte in die Finger. Ihr erstes „Gemälde“, erinnert sich Rachel Gera, zeigte einen Mann mit Maske, das Dunkle symbolisierend, das sie seither durch künstlerische Freiheit und Schönheit in den Hintergrund zu drängen trachtet.

Lwiw blieb trotz der kummervollen Lebensumstände ein Ort relativer Sicherheit, wenn auch immer weiter weg vom Vater, der Sonne Israels und ihrer palästinensischen Heimat. Doch inzwischen setzte sich in Russland Razzia-artig der Hitler-Stalin-Pakt durch, der Polen als deutsch-russische Beute sah, mit der Konsequenz, dass Polen auch in Stalins Reich verfolgt wurden, Juden eh. Bis heute ist Rachel nicht klar, was sie und ihre Mutter damals, vor der Gründung Israels, eigentlich waren: Polen, Staatenlose oder Palästinenser. Aber was auch immer – nichts wäre Garant für Recht und Sicherheit gewesen. „Die Jahre damals haben mich meine Jugend gekostet“, sagt Rachel Gera heute.

Das Leben bestand aus Arbeitslagern und Stacheldraht

Irgendwann auf dieser Flucht erreichten sie Zentralrussland und irgendwann verließen sie es wieder. Das Gehirn einer Sechsjährigen arbeitet ja nicht nach Faktenlage, sondern nach Eindrücken. Für sie, die inzwischen russisch wie polnisch sprach, bestand das Riesenreich nur aus grauen Arbeitslagern, bedrückender Enge, aus Stacheldraht, Hunger, Gestank, rachitischen Figuren, Fußmärschen, Borscht und Roter Bete, allerdings auch aus dem Urinstinkt fürs Überleben. Und dann die erneute Wendung am 22. Juni 1941. Mit dem Überfall Hitlers auf Russland war es aus mit der deutsch-sowjetischen Entente. Plötzlich wurde Polen zum sowjetischen Verbündeten, das heißt, die Exilpolen. Polen selber war ja besetzt. Ein polnischer General gründete auf sowjetischem Boden eine Exil-Armee – ein trostloser Haufen ausgemergelter Figuren, die nur eines zusammenhielt: ihr Nationalstolz. Doch als der Buschfunk verbreitete, dass sich diese Truppe zur Erholung nach Persien aufmachte, unter Mitnahme ihrer Familien samt polnischer Waisenkinder, wollten auch Rachel und ihre Mutter fort. 

Die Mutter blieb mangels polnischen Ehemannes zurück; sie gab ihre Tochter als Waisenkind aus, weil jüdische Kinder nicht mitgedurft hätten und warf sie praktisch im letzten Moment auf den rollenden Zug. Sie selbst kam vier Monate später nach. Mit ihrem letzten Schmuck hatte sie einen ledigen Polen bestochen. Auf diese dramatische und illegale Weise überlebten 862 jüdische Kinder in Persien, von wo sie – nunmehr mit Unterstützung der Jewish Agency – über Karatschi auf langen Umwegen Jahre später endlich wieder heimatliche Erde betraten. Sie alle sind als die „Teheran-Kinder“ in die Vorgeschichte zur Gründung Israels eingegangen. Rachel Geras Geschichte wird in „Die Odyssee der Kinder“ am 9. November im ZDF gesendet. 

Gabriele war während eines fünftägigen Horrors die einzig ruhige 

Die Laufbahn der anderen Künstlerin, Gabriele, startete nach einer ähnlich unvorstellbaren Katastrophe wie sie Rachel überstanden hat. Als Tochter eines Architekten, der in der Nachkriegszeit die Familie mit Essig- und Öl-Bildern über Wasser hielt, fand sie den Weg zur Kunst nach einem fünftägigen Schock. Die Stewardess Gabi Dillmann, damals noch unverheiratet, gerade frisch verliebt und mitten im Leben nach dem Motto „was kost` die Welt“, hatte am 13. Oktober 1977 Dienst auf der Lufthansa-Maschine „Landshut“. Auf dem Flug von Mallorca nach Frankfurt wurde das Flugzeug von einem arabischen Kommando entführt. 

Ein fünftägiger Horrorflug durch den Vorderen Orient begann. Mal durften sie landen, mal nicht, mal gab es Kerosin, dann wieder nicht. Ein Irrflug, der auch Deutschland in Angst und Schrecken stürzte. Die Entführer verlangten unter wüsten Drohungen die Freilassung von elf inhaftierten deutschen und türkischen Terroristen. Das Krisenkabinett um Bundeskanzler Helmut Schmidt tagte Tag und Nacht, während die 86 Passagiere in der Gluthitze allmählich in ihrem eigenen Dreck versanken, zitternd vor Angst vor den immer nervöser werdenden Verbrechern. Die einzige, die Ruhe bewahrte, trotz immer wieder aufschießender Panik, war die damals 23-jährige Gabriele. 

Sie vermittelte, versorgte, beruhigte die Passagiere – bis der Pilot Jürgen Schumann erschossen wurde, unmittelbar neben ihr und von den Terroristen vor seiner Exekution gezwungen, nieder zu knien. Da war es für einen Moment auch mit ihrer Fassung vorbei. Ohnmächtig musste sie zusehen, wie der Körper anschließend grob aus dem Cockpit auf die Landebahn geworfen wurde. Als nach fünf Tagen die GSG 9 mit Blendgranaten urplötzlich die Maschine stürmte, war das Drama des „Deutschen Herbstes“ noch lange nicht zu Ende. 

Manch ein Bekannter weiß gar nicht, wer sie ist 

Am Tag darauf begingen Baader, Ensslin und Raspe in Stammheim Selbstmord, wieder einen Tag später wurde Hanns-Martin Schleyer ermordet im Kofferraum eines Audi 100 im französischen Mülheim aufgefunden. Gabi Dillmann avancierte nach den Schilderungen der befreiten Passagiere in Deutschland zum „Engel von Mogadischu“. Aus der Hand von Bundeskanzler Schmidt erhielt sie das Bundesverdienstkreuz, kündigte dann aber ihren Job und zog sich aus der Öffentlichkeit zurück – so sehr, dass es heute noch Bekannte gibt, die nicht wissen, wer sich hinter Gabriele von Lutzau in Wahrheit verbirgt. 

Seither kreuzten sich im abstrakten Sinne, aus vergleichbaren Motiven die Wege der beiden Frauen, die der Berliner Medienprofi Stephan M. Vogel zusammengeführt hat: Auch Gabi von Lutzau, geborene Dillmann, fängt an, sich künstlerisch zu betätigen – nicht auf der freien Wildbahn ihrer Fantasie, erst nach elfjährigem Lernen bei Walther Piesch, Professor an der Uni Straßburg. Immer wieder sucht sie ihn in seinen Kursen auf. 

Das Schicksal hat den beiden Frauen übel mitgespielt, sie aber nicht brechen können. Nicht die Deutsche Gabriele von Lutzau, vom Typ eine Jeanne DArc an Kraft und Mut, die ihrem Material mit Helm und Kettensäge zuleibe rückt, um doch etwas Feingliedriges zu schaffen. Sie sagt: „Die Macht der Leichtigkeit, der Liebe und der Lust gegen die Macht des Terrors, des Todes und der Fesseln der Welt.“ Das Schicksal konnte auch die andere nicht brechen, die schmale Jüdin Rachel Gera, deren Lächeln an Jane Birkin erinnert: charmant, wissend und ein wenig geheimnisvoll. 

Bis 31. Juli täglich 11-20 Uhr (außer Di), Commerzbank am Pariser Platz